“Jedes Kind hat ein Recht auf eine Familie“ - Der Nothilfefonds der Albert-Schweitzer-Kinderdörfer gewinnt Swiss Life Förderpreis

Es ist 13:00 Uhr an einem sonnigen Novembertag im Albert-Schweitzer Kinderdorf in Alt-Garge in der Nähe von Lüneburg. Gemeinsam mit unserem Filmteam sind wir zu Gast bei Christine Sarnow. Sie ist Kinderdorfmutter in Alt-Garge, unserm Drehort für den diesjährigen Förderpreis-Film. 

Die Haustür des gemütlichen Einfamilienhauses, mitten in einem großen Garten gelegen, fliegt auf.

Vorbei ist es mit der Ruhe! Die Brüder Johnny und Jack schmeißen ihre Tornister in die Ecke im Flur und stürmen in die Küche. Ihre erste Frage: „Was gibt’s heute zu essen?“ Kurz darauf folgen noch die beiden Mädchen Caroline und Annalena etwas weniger lautstark und stürmisch. 

Es gibt Pizza. Während des Essens wird sich eifrig unterhalten: Wie war es in der Schule, wie ist die heutige Mathearbeit gelaufen und was steht an Hausaufgaben auf dem Zettel.

Eine Szene, wie sie sich zur Mittagszeit täglich in tausenden von Familien abspielt. 

Albert-Schweitzer-Kinderdörfer: Ein liebevolles, neues Zuhause

Die Albert-Schweitzer Kinderdörfer bieten traumatisierten, vernachlässigten und misshandelten Kindern ein liebevolles, neues Zuhause an. Die Kosten für Unterbringung, Kleidung und Essen übernimmt das Jugendamt. Doch um den Kindern nachhaltig zu helfen, sind häufig vielfältige und individuelle Therapieformen nötigen. Genau hier setzt der Nothilfefonds an. Dabei sind die 20.000 Euro des Swiss Life Förderpreises kleine „Wünscherfüller“ und Therapie in einem: 

Es ist nicht nur die psychologische Betreuung, die Wunden heilen, oder Erinnerungen verblassen lassen. Manchmal ist es auch die Mitgliedschaft in einem Fußball- oder Judoverein oder das Tanzen lernen. „Wir und das ganz normale Leben – was immer das auch heißt – sind die beste Therapie“, weiß auch Christine Sarnow, seit 21 Jahren Kinderdorfmutter in Alt-Garge.

23 Kinder in 21 Jahren großgezogen

Die sechzigjährige Power-Frau mit ihrer herzlichen Art, positiven Ausstrahlung und einem lauten ansteckenden Lachen ist seit 21 Jahren Kinderdorf-Mama in Alt-Garge. Mit ihren drei eigenen Söhnen und ihrem Mann bestand ihre Familie in dieser Zeit aus immer wechselnden Konstellationen von über 20 verschiedenen Kindern, die hier über Jahre zusammengelebt haben.  

„Familie“ das scheint der Schlüssel zu ganz Vielem zu sein. „Wir bemühen uns, hier „Familie“ zu leben“, sagt Christine. Das mag zunächst etwas banal klingen, aber je mehr wir über die Lebenswege von Jack, Johnny, Annalena und Caro erfahren, desto mehr verstehen wir, was für die Vier das Besondere daran ist. Johnny, Jack und Annalena, die Geschwister, leiden an „FASD“, dem Fetalen Alkoholsyndrom. Die Alkoholsucht ihrer Mutter währen der Schwangerschaften hat zu den Behinderungen geführt, die die Drei ihr Leben lang begleiten werden.   

FASD: „Eine Behinderung, die zu 100% vermeidbar wäre“

In Deutschland kommen pro Jahr 177 Kinder mit FASD auf 10.000 Geburten auf die Welt. 

Der Alkohol- und Drogenkonsum der Mütter wirkt sich auf die Entwicklung der Organe, vor allem des Gehirns der Kinder aus. Die Ausprägungen sind ganz unterschiedlich: Körperlich gibt es u.a. Skelettfehlbildungen, organische Schäden oder Gesichtsveränderungen Aber auch geistige oder Entwicklungs- bzw. Verhaltensstörungen kommen vor: So sind die Kinder vergesslich, können sich Dinge nur schlecht merken. Sie können sich nicht über längere Zeiträume konzentrieren oder auf ein Thema fokussieren. Von einer Minute zur andern ändert sich ihre Stimmung und sie flippen völlig aus. Sie selbst können sich das nicht erklären, das macht unsicher, fördert Frust, manchmal Aggressionen. Und das schafft Probleme im Umgang mit anderen Menschen und in der Schule. 

Christine erzählt, dass sie und ihr Team sich permanent fortbilden, um den Kindern die bestmögliche Unterstützung zu bieten. Und fast entschuldigend sagt sie, dieses Krankheitsbild habe es natürlich auch schon früher gegeben, aber da hätten sie einfach noch nicht gewusst, warum die Kinder so sind. „Heute behelfen wir uns häufig mit einfachen Tricks: Wenn nötig tragen die Kinder einfach Kopfhörer im Unterricht, um die Flut an akustischen Reizen zu reduzieren“, so Christine. Selbst Kinderärzten fehlt es auch heute noch an der nötigen Sensibilisierung. Die Kinder werden mit falschen Medikamenten behandelt, Fehldiagnosen sind keine Seltenheit. „Aber die Situation bessert sich langsam“, meint die Kinderdorf-Mutter.

Die beste Therapie ist ein normales Familienleben

„Jedes Kind hat das Recht auf eine Familie und gleichzeitig ist das die beste Therapie“, davon ist Sarnow überzeugt. Und das versuchen sie, gemeinsam mit festen Erzieherinnen und Erziehern, den Kindern zu bieten. „Die Kinder lernen hier erstmal Kind zu sein, zu spielen und zu vertrauen. Wir lachen zusammen, wir weinen, streiten, feiern Weihnachten und Geburtstage wie „normale“ Familien auch“, sagt Christine. Ein strukturierter Tagesablauf, ein Gefühl von Geborgenheit und Liebe, Hilfe bei den Hausaufgaben, gemeinsame Mahlzeiten begleiten die Kinder hier über Jahre auf ihrem Weg und bereiten sie auf das Erwachsen werden vor.

Diese positive Frau, die scheinbar nichts aus der Bahn wirf, ist überzeugt davon, dass sich die Lebenswege viele der Kinder ohne ein Zuhause im Kinderdorf ganz anders entwickelt hätte. 

Und das ist auch nach über 20 Jahren noch ihre tägliche Motivation und ihr Ansporn. 

 

Seien auch Sie zu Gast im Albert-Schweitzer Kinderdorf in Alt-Garge.